Mittwoch, 9. Dezember 2015

The Wolfpack - anschauen!!

Kurzer dringlicher Zwischenpost, weil ich gerade etwas Unglaubliches gesehen habe (Teil 2 der Lotz'schen oberen Öffnung der Postmoderne ist unterwegs):

The Wolfpack-
Gewinner des diesjährigen Sundance Festivals in der Sparte Dokumentarfilm.

Bei uns noch nicht im Kino, aber auf Netflix ( nur auf dem amerikanischen Netflix- kleiner Tipp: wenn man Abonnent beim deutschen Netflix ist, und über einen Proxy, der einen wie aus U.S. kommend aussehen lässt auf die Seite geht, dann öffnet sich automatisch die amerikanische Netflix Seite. Netflix "merkt" sich das nicht, wenn man sich das nächste Mal ohne Proxy einloggt, ist es wieder die deutsche- was man auch braucht, weil es einige gute Dinge, wie zum Beispiel die ausgezeichnete Serie "Fargo" wiederum nur auf der deutschen Netflix Seite gibt)

Die Adjektive "unglaublich" und "verstörend" passen ausnahmsweise wirklich ganz genau.
Man sieht 6 Jungs, offensichtlich Brüder, 10 bis 16, wie die Orgelpfeifen, die einander enorm ähnlich sehen, außerdem alle hüftlange Haare haben- und die in einer kleinen Wohnung Filme nachspielen, perfekt nachspielen,. jede Geste, jedes Wort; ,mit selbstgemachten Kostümen und Requisiten. Der erste Film ist "Reservoir dogs"- dann kommen andere, "Batman", "Der Pate""Blue velvet" "Pulp Fiction" und viele andere. Erst nach einer Weile begreift man die Situation: diese Kinder sind in der Wohnung eingesperrt. Der Vater, ein Chilene, Krishna Anhänger, der sich selbst für eine Art Gott hält, hat mit der Mutter, die aus dem Mittleren Westen kam, eine private, aus einer Familie bestehende Sekte gegründet. Bevor der erste der Söhne mit 15 das erste Mal einen Ausbruchsversuch unternommen hat, waren alle sieben Kinder (sechs Jungs und ein Mädchen) in der Wohnung eingesperrt- einzelne Ausgänge ausgenommen, die aber manchmal jahrelang nicht stattfanden. Die Mutter hat die Kinder zu Hause unterrichtet, der Vater war überzeugt, Kontakt mit der Außenwelt wäre gefährlich für die Entwicklung der Kinder. Insgesamt war es wie bei Fritzls- nur ohne sexuellen Missbrauch und mit vielen Filmen. 

Das Verstörende: man wird ganz heftig mit den eigenen Überzeugungen konfrontiert, wie etwas sein "müsse". Die Jungs sind nämlich ganz offensichtlich nicht zerstört, oder auf eine Weise traumatisiert, die man erwarten würde. Als der Älteste 15 war, ist er einmal in einer Halloweenmaske abgehauen, wurde eingefangen und in die Psychiatrie gebracht. Es gab aber keinen weiteren Polizeieinsatz- es gab wohl keine Handhabe- keine nachweisbare Gewalt. Danach begannen die Jungs Widerstand zu leisten gingen zusammen raus- als Reservoir Dogs verkleidet- so traf sie die Dokumentarfilmerin, die dann über vier Jahre ihren Prozess zur "Normalität" begleitet hat. 

Was so schwer zu fassen ist- ich saß buchstäblich mit offenem Mund da beim Zuschauen- ist, dass das alles den Prozess der "Menschwerdung" nicht nur nicht verhindert hat, sondern dass alle sechs charmant, liebenswert und inzwischen auch realitätstüchtig sind. Ohne dass sie, oder die Eltern, (oder der Film) wirklich reflektiert hätten, was da los war- ohne irgendeine Bearbeitung von Traumata, und ohne Bewusstsein davon, wie ungeheuerlich es dem Rest der Menschheit erscheinen muss, wie sie aufgewachsen sind. Auf irgendeine Art haben die Filme ihnen das ermöglicht- soviel ist zu sehen, aber es ist ganz unverständlich, wie. Offenbar waren die Filme DA, war eine andere Realität da, die sie aber in keinen Zusammenhang gestellt haben. Niemals kamen sie auf die Idee die vielfältigen Kampfmnethoden der durchgängig sehr gewalttätigen Szenen etwa gegen den Vater einzusetzen. Und auch der Vater, der sie auf perverse Art als seine Gefangene hielt, kam nie auf die Idee, es könnte gefährlich sein, dass seine Söhne die meiste Zeit damit verbrachten, diese Filme nachzuspielen. 

Erinnerung an Literatur: Josef Winkler, Winnetou, Abel und ich
 Wenn man irgendein Buch von Winkler gelesen hat, dann kennt man seine furchtbare Kindheit in Kärnten. Den gewalttätigen Vater.Die sprachlose Mutter. Das bösartige schreckliche Dorf in dessen Stadln die Selbstmörder baumeln, Sich-aufhängen: die natürlichste Todesursache. In diesem Band beschreibt er in einem kleinen Essay, wie er zuerst einen Winnetoufilm gesehen hat, und dann begonnen hat alles von Karl May zu lesen, es dann abzuschreiben, zu einem Schreibmaschinwettbewerb zu gehen und wie er sich so, über das Lesen und Abschreiben von Karl May aus dem tödlichen Dorf hinausgeschrieben hat. Die nächsten Kapitel sind Nacherzählungen von prägnanten Winnetouszenen. Winkler schreibt sie völlig unironisch, mit all der Naivität und dem Pathos, die die Geschichten von Karl May ausmachen. Die Art wie die sechs Jungs vom Wolfpack akribisch die Filme reenacten hat mich sehr an dieses Nacherzählen von Josef Winkler erinnert. In beiden Fällen ist es so verstörend, dass es keine Bewertung gibt- keinen Kontakt der vereehrten Phantsieinhalte mit der Realität. Die Filme bei den Jungs und die Winnetougeschichten bei Josef Winkler stehen wie Monolithe in deren Innenwelt herum. Offenbar rettend- aber ohne Kontakt.

Ja, wenn ich drüber nachdenke, standen meine Kinderbücher auch so für sich allein in mir drin: die Captain Hornblower- Romane, Vom Winde verweht und die Abenteuerbücher von Jules Verne.

Jedenfalls ist bei "The wolfpack" alles, was man annimmt, falsch. Was bedeutet das? Dass es egal ist, ob Kinder missbraucht werden? Dass Geschichten nicht wirken, indem man über sie nachdenkt oder sie in einen Bezug zum eigenen Leben stellt- sondern indem sie unbefragt in einem da stehen?

Man staunt. Ungeheuer. Man muss es gesehen haben.


Sonntag, 6. Dezember 2015

Wie kommt man oben aus der Postmoderne wieder raus?

<![endif]-->über "Die lächerliche Finsternis" von Wolfram Lotz (1)


Eine gute Frage, die Wolfram Lotz sich da gestellt hat, und eine die immer dringender wird: Kommt man aus der Postmoderne wieder raus? Und zwar nicht zurück zu Staub und rotem Samt und Opium fürs Kulturvolk, sondern vorwärts in eine Wirklichkeit, die es nach der ganzen Dekonstruktion da draußen immer noch gibt? Mit der Aufführung von „Die lächerliche Finsternis“ in Jena ist genau das geglückt! Ich bin begeistert- deshalb gibt es hier jetzt ausnahmsweise einen Beitrag über ein Theaterstück.

Teil 1 ist eine Kritik der Inszenierung, die aktuell am Theaterhaus Jena zu sehen ist.

In Teil 2 vergleiche ich die Jenaer Inszenierung mit der vom Wiener Burgtheater (hier komplett auf youtube). Ich versuche herauszufinden, wie sich die Wirkungen der beiden stilistisch fast schon entgegengesetzten Fassungen unterscheiden, ob und wie der Text von Lotz als politisches Theater funktioniert, und was ihn so anders macht als all die anderen Stücke über Fremdenfeindlichkeit, die man derzeit überall sieht.


„Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Theaterhaus Jena

„Sehr geehrter Herr Richter! “ sagt der Mensch, dessen Plädoyer da über Video auf die Bühne übertragen wird, in die Kamera, „Es ist richtig, dass ich Pirat bin.“ Der Kerl sieht auch wirklich wie ein Pirat aus, Pluderhose, Goldklunker, feuriger Kajalblick., „aber ich habe das Recht zu erzählen, wie es dazu gekommen ist. Mein Name ist Ultimo Michael Pussi und wie Sie wissen, bin ich ein schwarzer Neger aus Somalia..“.

Wie bitte? denkt man, der Mann ist doch weiß! Und er sagt das N- Wort?! Ist das etwa erlaubt, wenn es ein Schwarzer über sich selbst sagt? Aber er ist ja gar nicht wirklich schwarz, er behauptet es nur! Somalische Piraten gibt es andererseits wirklich! Also wirklich wirklich, steht in der Zeitung! Wie passt denn das jetzt zusammen?- In diesen ersten Momenten ist im Kern schon alles drin, was das Stück des Jahres, die Komödie „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz, in der kongenialen Aufführung am Theaterhaus Jena (Regie: Jan Langenheim) zu einem Hit macht: es geht offensichtlich um das Thema N°1, um „uns“ und „die“. Aber was da ins Auge sticht, ist kein moralischer Zeigefinger, sondern eine wilde Mischung aus Widersprüchen, die einen in schnellem Wechsel zum Lachen und Denken, zum romantisch Glotzen und entsetzt sein zwingt- es geht mitten hinein in die finsteren Kanäle unserer Herzen und Hirne.


„Als ich davon hörte, dass in Hamburg somalische Piraten vor Gericht stehen, da habe ich eine Wut bekommen“, sagt Lotz in einem Interview, „was für ein Irrsinn ist es denn, Leute verurteilen zu wollen, über deren Lebensumstände wir praktisch nichts wissen!“ Das Tolle an Lotz, sozusagen sein Alleinsteinungsmerkmal, ist, dass er seine Wut nicht in moralische Überlegenheit ummünzt, sich aber auch nicht auf dokumentarische Formate zurückzieht, bei denen sich der Zuschauer fragen muss, ob er statt ins Theater nicht lieber in die Volkshochschule hätte gehen sollen. Lotz bleibt bei sich selbst- und findet, dass er kaum etwas über den somalischen Piraten weiß, was ihn berechtigen würde für ihn zu sprechen, nur eins: was der in dieser Situation will – einfach weil es das ist, was jeder wollen würde: ein möglichst mildes Urteil. Lotz legt ihm also ein verzweifelt poetisches Plädoyer in den Mund, eine Bitte um Verständnis, zusammengestoppelt aus Versatzstücken, von denen ein Somalier annehmen könnte, dass sie einen weißen Hamburger Richter rühren. Das ergibt eine Mischung, mit der Ultimo Michael Pussi (Benjamin Mährlein) abwechselnd ins Schwarze der Rührung trifft und gleich darauf auf hochkomische Weise daneben liegt - und gehört bestimmt zu den schönsten neuen Texten, die man derzeit auf einer Bühne hören kann. (hier zum Nachlesen)



Nach dem Prolog des Piraten beginnt eine ganz andere, die eigentliche Geschichte: die Reise ins Herz der Finsternis. Die stammt ursprünglich von Joseph Conrad: In der Hochzeit des Kolonialismus fährt Kapitän Marlow  im Auftrag einer Elfenbeinhandelsgesellschaft den Kongo hinauf, um den verschollenen Colonel Kurtz aufzuspüren, über den mysteriöse Gerüchte kursieren: er soll erleuchtet sein, das Geheimnis kennen, das im Herz der Finsternis lauert, wahnsinnig geworden, ein Mörder.

Der Film „Apocalypse now!“ von Francis Ford Coppola verlegt die Story in den Vietnamkrieg.

Bei Lotz spielt sie nun in einem postkolonialen Phantasieland, einer Mischung aus Afghanistan, Somalia und dem Kosovo, in dem Oberfeldwebel Pellner (Ilja Niederkirchner) und der Gefreite Dorsch (Maciej Zera) den Fluss Hindukusch hinauffahren, tief hinein in die Regenwälder Afghanistans.

Lotz hat den Text eigentlich als Hörspiel geschrieben, denn Dschungel, Hitze, Tierschreie, Fieberphantasien, all das gesehen durch die Augen des immer paranoider werdenden Pellner- wie sollte man das auf der Bühne lebendig werden lassen? Die preisgekrönte Wiener Aufführung löst das durch Abstraktion: eine fast leere Bühne, undefinierte schwarze Kostüme, alle Rollen werden von Frauen gespielt. In Jena ist nun der völlig entgegengesetzte Versuch zu sehen. Die Ausstatter (Benjamin Schönecker & Veronika Bleffert) erschaffen eine bunte Phantasiewelt, in der somalische Piraten aussehen wie Johnny Depp, Bundeswehrsoldaten wie Cowboys, und die Eingeborenenhütten wie Häuschen aus den finstersten Winkeln des Schwarzwalds. Tatsächlich funktioniert das grandios, verschmilzt mit dem Text von Lotz zu einem absurden und doch vertraut scheinenden Universum. Spätestens wenn die fremdartigen rituellen Gesänge anheben, und das Eingeborenenmädchen (Klara Pfeiffer) mit Inbrunst „Atemlos“ schmettert, fühlt man sich zuhause im Dschungel der inneren Bilder aus Märchen und Filmen, Horror und Lüsten. Die Schauspieler stürzen sich rückhaltlos in ihre Rollen, ganz ohne postmoderne Zurückhaltung, geben keine Karikaturen, die auf Textflächen Schlittschuhlaufen, sondern lauter echte Menschen. Benjamin Mährlein rührt als Pirat und verzweifelt nach Liebe suchender Sextourist. Leander Gerdes ist ein strahlender Missionar, der seinen Gott und seine halbnackten Schäfchen liebt und ein fahrender Händler mit einem wunderbar minimalistischen Tourettesyndrom.


Das Herz der Jenaer Aufführung ist das Drama, das sich zwischen Pellner und Dorsch auf ihrer Reise durch den ihnen immer bedrohlicher scheinenden Dschungel abspielt.
Dorsch und Pellner (Maciej Zera, Ilja Niederkirchner)
Pellner ist die schillerndere Figur von beiden, ein zwanghaftes, von uneingestandenen Ängsten verschnürtes Kraftpaket. Wie Ilja Niederkirchner ihn spielt, ist eine echte schauspielerische Glanzleistung. Sein Brustkorb ist gebläht von der nie endenden Anstrengung, das Richtige zu tun. Die Arme stehn ihm steif vom Körper ab, der Hinter reckt sich wie ein Entenbürzel. Durch Niederkirchner hindurch irrlichtern die Bewegungsmuster von Martin Sheen, (der die entsprechende Rolle in Apocalypse now spielt), von Marlon Brando und mit zunehmendem Irrsinn die des zähnefletschenden Jack Nickolson aus „Shining“. Daneben hängt traurig Dorschs langes Elend, Zeija spielt ihn gerade und einfach. Er ist ein großer, gutmütiger Supersportler, der nie begreift, was gerade läuft. Die beiden sind ein ebenso komisches wie schreckliches Paar, zwei verschiedene Bilder von Elend und Ratlosigkeit darüber, dass die Sache mit der Männlichkeit einfach nicht mehr funktioniert.-Wie die beiden Schauspieler ihre perfekt trainierten Körper schmerzlich verknoten, spiegelt auf wunderbare Weise die durch Hemmungen verschwurbelte Sprache, die Lotz für sie gefunden hat. In Pellners Amtsdeutsch reißt die Paranoia überraschende Löcher aus Schweigen, aus Dorschs Mund blubbert immer wieder die reine Poesie, ohne dass ihm das bewusst wäre. – Das ebenso einfache wie berührende Drama ist, dass Dorsch versucht, Pellner näher zu kommen. Er will sein Freund werden, erhofft sich davon Hilfe gegen seine Ängste. Für Pellner ist das der ärgste Horror. Und während man sich mit dem ganzen Herzen des naiven Zuschauers wünscht, Dorsch möge es doch schaffen, zu dem völlig verängstigten Wesen durchzudringen das sicherlich im Inneren von Pellner stecken muss, verzerrt sich dessen Mund zu fürchterlichen Grimmasen des Ekels und Widerwillens. Das ist sehr komisch und sehr schrecklich- und die Geschichte entscheidet sich natürlich im Herz der Finsternis.

Die Aufführung ist ein Erlebnis, weil sie nicht auf einer Oberfläche herumdümpelt, auf der sich gute Menschen bei guten Menschen darüber beklagen, wie bös die bösen Menschen sind. Sie erinnert daran, dass Theater ein Ort sein kann, in dem man tief in die Mördergrube des eigenen Herzens taucht; in dem man Mitleid und Furcht empfindet – und das bei immer weiter ratterndem Verstand. Sie bietet keine Lösung, nur gutes Theater.

An der Wand des Kassablanca hängt eine Leuchtschrift mit dem Wort „Hoffnung“. Vielleicht ist es eine Botschaft, vielleicht ist aber auch das Kap der guten Hoffnung gemeint, vor dem die somalischen Piraten auf das nächste Schiff warten.

Nächste Vorstellungen am 21.12. und 22.12. http://www.theaterhaus-jena.de/